LUST AUF FARBE

Von Dr. Matthias Liebel

Ismet Polatli ist ein Ausnahmekünstler in vielerlei Hinsicht. 1965 in der türkischen Stadt Tercan geboren, zog er in jungen Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland, um dort ein besseres Leben zu finden. Allerdings wurde das Kind bereits kurz nach Ankunft der Familie von seinen Eltern getrennt und gezwungen, alleine in die Türkei zurückzukehren, was für den Jungen zu einem traumatischen Erlebnis wurde. Erst in den späten 70er Jahren fand die Familie wieder zusammen. Wiewohl Polatli seither in Ratingen bei Düsseldorf ansässig wurde, fühlt er sich bis heute heimatlos und getrieben. Er ist ein Steppenwolf, wie Hesse ihn einst beschrieben hat: Einzelgänger und kritischer Beobachter der Geschehnisse um ihn herum, ausgestattet mit einer sensiblen Wahrnehmung und mit einem wachen Geist, ein Getriebener dabei, der sich mit seiner Malerei auf eine Reise in die Tiefen der menschlichen Seele begibt.

Was Ismet Polatli auf seinen Bildern erzählt, sind Geschichten, von denen wir nicht immer mit Bestimmtheit sagen können, ob sie sich tatsächlich ereignet haben oder ob sie der narrativen Vorstellung des Künstlers entsprungen sind. So changiert Polatli mit seinen Gemälden zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen fantasievoll ersonnenen Bildwelten und realweltlich geschauten Begebenheiten. Er ist „ein Maler zwischen den Welten.“

Zur bildenden Kunst kam Ismet Polatli schon kurz nach seiner Ankunft in Deutschland. Mit 14 Jahren begann er, Gedichte zu schreiben und zu musizieren, vor allem aber zu malen und zu zeichnen. Allmählich rückte die Malerei immer stärker ins Zentrum seiner Interessen. Gegen Mitte der 90er Jahre begann er, sich systematisch mit den gestalterischen Möglichkeiten des bildnerischen Ausdrucks auseinanderzusetzen. Er studierte Ausstellungskataloge und Fachbücher und bezog aus Kunstzeitschriften und Bildbänden die Inspiration für sein eigenes Schaffen. Die Techniken, derer er sich bediente, hatte er sich im Selbststudium autodidaktisch beigebracht: das Zeichnen mit Bleistift, Kohle- oder Rötelstiften, mit bunten Pastell- und Ölkreiden schließlich, das Malen mit Wasserfarben sowie erste Versuche in Öl – auf Pappe zunächst, dann auf der Leinwand. Auch mit dem Anfertigen von Skulpturen und Objekten hat sich Polatli befasst. Seiner Experimentierfreude waren keine Grenzen gesetzt. Er übte sich in der Darstellung gegenständlicher Motive ebenso wie in der Abstraktion und gelangte nach und nach zu einer eigenen Stilsprache, die sich anfangs an der Malerei des Expressionismus orientierte, allmählich jedoch immer freier wurde und sich schließlich zu einer individuellen Pinselhandschrift verselbständigte.

Obschon sich das ikonographische Repertoire von Ismet Polatli ausgesprochen vielfältig entwickelte, es bis heute zahlreiche motivische Hauptaugenmerke und Nebenschauplätze umfasst, lässt sich das Gros seiner Gemälde im Wesentlichen in drei Werkgruppen unterteilen: In die Darstellung landschaftlicher Motive, in die Darstellung menschlicher Figuren und in die Darstellung von Tieren.

Bei den Landschaften spielen Bäume eine große Rolle – bisweilen in bildflächenparalleler Anordnung zu Wäldern verdichtet, kahl dabei und wie stumme Zeugen der Faszination des Künstlers für eine vergulistische Pinselführung in überraschend bunten Farben; bisweilen aber auch in motivischer Vereinzelung wiedergegeben, auf steil abschüssigen Hügeln und vor dramatisch den Hintergrund ausfüllendem Himmel oder als solitäre Gewächse in einer kargen Ebene mit angedeuteter Vegetation am Horizont. Manche Bäume sind sturmwindgepeitscht, andere behaupten sich trotzig gegen die klimatischen Widrigkeiten, die sie existenzbedrohend umgeben. Es besteht kein Zweifel: Die Bäume auf den Gemälden von Ismet Polatli stehen symbolisch für den Menschen und sein Schicksal – sei es als Einzelner oder sei es in der Gruppe. Migration ist dem Künstler ein wichtiges Thema, soziale Isolation und Widerstand gegen äußere Anfeindungen.

Besonders anschaulich behandelt Polatli diese Inhalte auf seinen Gemälden mit der Darstellung menschlicher Figuren: Männer und Frauen, manchmal im Büstenporträt wiedergegeben, mit formfarblichen Exaltationen im dynamisch bewegten Duktus der Malerei des Neoexpressionismus; als ausgestoßene oder ausgesetzte Bildfigur, einem entfremdeten Wesen gleich in urbaner Umgebung; als Aktfiguren mitunter, begafft, bewundert, bedauert, ohne Gesicht wiedergegeben und trotzdem weder ihrer Individualität noch ihrer Würde beraubt; manchmal in Gruppen vereint, ihre nationale Herkunft überwindend und nach anderen Kriterien neu sich zusammenfindend, in landschaftlicher oder stadtlandschaftlicher Umgebung, die das Leben in der Fremde repräsentiert, in eines Raumes Innerem bisweilen, das die vertraute Umgebung der dargestellten Personen symbolisiert, nicht selten aber auch vor motivisch unbesetzt gebliebenen abstrakten Hintergrundflächen, die als äußere Leere die Einsamkeit der davor gezeigten Bildfigur versinnbildlicht. Auch auf seinen figürlichen Darstellungen kreisen die Gemälde von Ismet Polatli um solche Themen wie „Alleinsein“, „ausgestoßen Sein“ oder – davon war bisher noch nicht die Rede – „sich in eine heile Welt Hineinträumen“. Auf einer seiner figürlichen Darstellungen hingegen erkennen wir ein beinahe gegenteiliges Motiv: Dort pellt sich eine fremdartig anmutende Bildfigur, halb Mensch, halb Vogel, in einem Akt der Befreiung mühsam und kräftezehrend, wie bei einer Geburt aus dem Ei. Der visionäre Charakter dieses Bildes rückt das stilistisch ansonsten eher von einer expressiven Pinselführung geprägte Gemälde in die Nähe des Surrealismus. Wer glaubt, die Tierdarstellungen des Künstlers schließlich seien in ihrer Bedeutungstiefe weniger gehaltvoll, der irrt. Die sprengenden Pferde, die schnaubenden Büffel, die vagabundierenden Wölfe – sie alle repräsentieren das Ich des Künstlers und seine inneren Befindlichkeiten: bald mutig und getrieben, von welchen Kräften auch immer, durch eine gefühlskalte Winterlandschaft galoppierend, bald in stadtarchitektonischer Umgebung wie verirrte exotische Wesen, bald wütend und schnaufend oder ausgehungert und lauernd, spähend und schnuppernd, als suchten sie das Leben, und zwar das Leben der Anderen. „Die Farben des Anderen“ nannte Ismet Polatli seinen Katalog von 2007. Diese „Anderen“ sind es, die der Künstler auf seinen Bildern, mit seinen Bildern und in seinen Bildern sucht.

Die Stilsprache, die Polatli dabei pflegt, ist die einer vom expressiven Impetus getragenen, mit bewegter Pinselhandschrift in kraftvollen Farben auf die Bildfläche gebrachten Ausdrucksmalerei. Auf den ersten Blick wirkt sie „alla prima“ ausgeführt. Erst bei genauerem Hinsehen bemerken wir zahlreiche weitere, unter der Oberfläche gelegene Farbschichten – teils mit dem Spachtel, teils mit dem Pinsel aufgetragen, von einer zweiten und dritten Malschicht überlagert und neuerlich überarbeitet, mit wieder anderen Farben und so, dass sich ein dialogischer Wechsel von Oberfläche und Tiefenschichten, von Drunter und Drüber ergibt. Überfangen werden die nicht selten abstrakt angelegten Untermalungen schließlich durch die gegenständliche Szene. Man muss die Gemälde von Ismet Polatli, die heute meist in Öl auf Leinwand geschaffen und oft mit Malmessern und Spachteln überarbeitet wurden, im Original sehen, um ihre bunten Tiefenschichten und ihren farbigen Reichtum zu erkennen. Sie sind nicht nur „Motiv auf Leinwand“, sondern zugleich Bild gewordener Ausdruck der Lust des Künstlers an der Farbe und an ihrer suggestiven Kraft.

In diesem Sinne verstehen sich die Gemälde von Ismet Polatli als Einladung an den Betrachter, sich gemeinsam mit dem Künstler auf eine Reise in dessen geheimnisvolle Bildwelten zu begeben und zugleich in einen Kosmos vorzudringen, der von bunten Valeurs und kraftvollen Kontrasten getragen wird.


Dr. Matthias Liebel ist Kunsthistoriker in Bamberg, Autor und Initiator diverser kunstwissenschaftlicher Forschungsprojekte.

ISMET POLATLI
ARBEITEN
2012-2016